Sind Sie gut durch den Winter gekommen? Oder hat es Sie auch erwischt? Nein, ich spreche nicht von der Grippe. Ich meine eine andere Krankheit – und die ist genauso ansteckend, anstrengend und unausrottbar wie die Influenza. Ich spreche von der Substantitivitis.
Falls Sie noch nie vom heimtückischen Substantivitis-Virus gehört haben: Ich mache jede Wette mit Ihnen, dass Sie schon einmal von ihm befallen waren. Sie haben es vielleicht einfach nicht gemerkt. Denn bestimmt lesen Sie ab und zu einen Text oder schreiben selbst einen. Dabei muss es sich weder um einen Zeitungsartikel oder gar ein literarisches Werk handeln, im Gegenteil: In E-Mails, Präsentationen oder Protokollen grassiert die Substantivitis besonders gerne, die Geschäftskorrespondenz ist sozusagen ihr liebster Wirt.
Das Perfide an dieser Pest ist – die man auch «Nominalstil» nennt –, es leiden niemals die Verfasserinnen oder Verfasser darunter. Sondern die Lesenden, die sich an den schmerzenden Kopf greifen, weil sie von einem infizierten Text gequält werden. Als Schreiberin hingegen spüren Sie meist nichts, und gerade deshalb möchte ich Sie warnen: Immun sind Sie deswegen noch lange nicht. Und wie ich neulich zu meinem Entsetzen feststellen musste, auch ich nicht.
Substantivitis: Symptome und Gegenmittel
Ich arbeitete gerade an einem Artikel für ein Magazin und schrieb dabei den Satz: «Die von den Mitarbeitenden vorgeschlagene Umsetzung der Anpassung der Dienstplanung ging in die Vernehmlassung.» Ich merkte nichts. Gerade wollte ich den Text an die Redaktion schicken, als mir mein Instinkt sagte, ich solle besser noch einen letzten Blick daraufwerfen. Oder war es mein Immunsystem, das sich regte? Jedenfalls fiel es mir beim erneuten Durchlesen wie Schuppen von den Augen: Der Satz strotzte nur so von diesen «-ungs» – ein klares Anzeichen für den Befall mit Substantivitis. Ausserdem gab es in meinem Satz von insgesamt 14 Wörtern sage und schreibe 5 Substantive und nur ein einziges Verb! Ich musste bereits in einem fortgeschrittenen Stadium sein.
Wenn auch Ihnen Ihre Sätze (oder die vom Chef oder der Chefin) kränklich vorkommen – hier sind die beiden Hausmittelchen, die garantiert wirken und Ihr Schreib-Immunsystem auf das nächste Level bringen:
«Die Inanspruchnahme der Dienstleistungen erfolgt durch den Kunden» – wenn Sie mehr Substantive als Verben in Ihrem Satz stehen haben, sollten Sie noch ein bisschen daran herumdoktern. Streichen Sie alle Substantive, auf die Sie verzichten können, und schon hat sich Ihr Satz erholt: «Der Kunde nutzt die Dienstleistungen.»
Weitere Beispiele:
Mit Substantivitis: «Die Erstellung des Berichts erfordert die Zusammenarbeit aller Abteilungen.»
Ohne Substantivitis: «Um den Bericht zu erstellen, müssen alle Abteilungen zusammenarbeiten.»
Mit Substantitivis: «Die Durchführung einer Risikoanalyse ist zwingend erforderlich.»
Ohne Substantivitis: «Es ist zwingend erforderlich, eine Risikoanalyse durchzuführen.»
«-ung» am Wortende: Fragestellung, Problemstellung, Zielsetzung. Besser wären hier sowieso die Kurzformen Frage, Problem und Ziel. Doch grundsätzlich gilt: Wenn Sie ein Substantiv mit einem «-ung» entdecken, versuchen Sie es loszuwerden, indem Sie ein Verb daraus machen. Bei den Schlusssilben «-keit» und «-heit» sollten Sie ebenfalls vorsichtig sein.
Schlechter: «Ich betreibe die Verfolgung meiner Leidenschaft mit grosser Hartnäckigkeit.»
Besser: «Ich verfolge meine Leidenschaft hartnäckig.»
Gut, vielleicht ist dieser Satz etwas an den Haaren herbeigezogen. Aber Sie verstehen, was ich meine. Die Substantivitis ist zwar mühsam, aber keineswegs unheilbar. Wenn Sie also achtsam sind und an diese beiden Hausmittelchen denken, bleiben Ihre Texte knackig gesund. Und wer weiss – vielleicht gehen sie ja sogar viral.
Ooooh, danke Frau Martinelli! Endlich mal jemand, der mir aus der Seele spricht! Warum meinen so viele Menschen, dass es sich besser anhöre, wenn man fünf Substantive in einen Satz baut? Manchmal muss man es dann zweimal lesen, bis alles verstanden ist. Warum ist die einfache Sprache nicht professionell genug? Substantivitis ist für mich die «viel Rauch um nichts».
Liebe Sandra, vielen Dank für Ihren Kommentar – da haben Sie vollkommen recht. Herzliche Grüsse, Jelena Martinelli