Herbst bedeutet nicht nur Morgennebel und farbige Blätter, sondern auch der Beginn der Grippezeit. Stellen Sie sich vor: Sie liegen zwei Tage mit hohem Fieber im Bett und kommen nach einer Woche immer noch erschöpft an den Arbeitsplatz zurück. Am Monatsende fällt Ihnen auf, dass die ausbezahlte Lohnsumme tiefer ist als sonst. Sie konsultieren die Lohnabrechnung und stellen fest, dass für zwei Tage kein Lohn bezahlt wurde und für die restlichen drei Tage nur 80%. Sie sind empört und verlangen sofort die Zahlung des restlichen Lohns von Ihrer Arbeitgeberin. Zu Recht?
Für privatrechtliche Arbeitsverhältnisse sieht das Obligationenrecht in Art. 324a OR vor, dass Arbeitnehmende bei einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit bei Arbeitsverträgen, die mehr als drei Monate gedauert haben oder für mehr als drei Monate eingegangen sind, grundsätzlich Anspruch auf eine Lohnfortzahlung für eine beschränkte Zeit haben. Im ersten Dienstjahr beträgt diese Zeit drei Wochen und danach ergibt sie sich aus den verschiedenen Skalen der schweizerischen Gerichte, nämlich der Zürcher, der Berner oder der Basler Skala. Gemäss Zürcher Skala besteht im 2. Dienstjahr zum Beispiel eine Lohnfortzahlung von 8 Wochen, ab dem 3. Dienstjahr von 9 Wochen etc. Der Anspruch auf Lohnfortzahlung entsteht jedes Dienstjahr neu und beträgt 100% des Lohnes.
Sie waren in diesem Dienstjahr noch nie krank und haben folglich Anspruch auf den vollen Lohn während Ihrer grippebedingten Abwesenheit.
Achtung: Es stellt sich die Frage, wie die Lohnfortzahlung bei Ihrer Arbeitgeberin, respektive in Ihrem Arbeitsvertrag geregelt ist. Wenn in Ihrem schriftlichen Arbeitsvertrag oder in einem GAV, der zur Anwendung kommt, eine Krankentaggeldlösung (sog. Ersatzlösung) vereinbart wurde, kommt diese zur Anwendung. Vorausgesetzt wird allerdings, dass diese Lösung gleichwertig ist wie die Lohnfortzahlung nach Art. 324a OR ist und auch korrekt vereinbart wurde (vgl. Art. 324a Abs. 4 OR).
Was heisst gleichwertig? Können 80% Lohn gleichwertig wie 100% sein?
Ob die Gleichwertigkeit im konkreten Fall gegeben ist, entscheiden die zuständigen Gerichte. Gemäss Rechtsprechung ist die Gleichwertigkeit im Allgemeinen gegeben, wenn eine Taggeldversicherung 80% des Lohnes während 720 Tagen nach einer Karenzfrist von maximal zwei bis drei Tagen leistet und die Prämien hälftig geteilt werden.
Für die konkrete Situation scheint die Gleichwertigkeit nicht gegeben zu sein. Betrachtet man allerdings die Lohnfortzahlung aus der Perspektive eines langfristig erkrankten Arbeitnehmenden, dann ist die Krankentaggeldlösung, welche eine Lohnfortzahlung von fast zwei Jahren vorsieht, finanziell viel attraktiver und hilfreicher als die relativ kurze Lohnfortzahlungspflicht gemäss Skalen. Ein Arbeitnehmender mit 10 Dienstjahren hat z.B. lediglich eine Lohnfortzahlung von 16 Wochen nach der Zürcher Skala und 4 Monate nach der Berner und Basler Skala. Unter diesem Aspekt fallen die zwei bis drei Karenztage kaum ins Gewicht und die 20% Lohndifferenz gleichen sich über die lange Zeit längst aus.
Wie sieht es mit der korrekten Vereinbarung aus?
Die Krankentaggeldlösung muss schriftlich vereinbart sein und die wichtigsten Eckpunkte enthalten. In diesem Fall müsste erwähnt sein, dass eine Krankentaggeldversicherung an die Stelle der Lohnfortzahlungspflicht der Arbeitgeberin tritt und diese während 720 Tagen 80% des versicherten Lohnes leistet. Die erkrankte Person müsste über die gedeckten Risiken und allfällige Vorbehalte informiert worden sein.
Weiter müsste stehen, ab wann die Versicherung ihre Leistungen erbringt, meist geschieht dies nach einer Wartefrist von 30, 60 oder 90 Tagen. In diesem Fall müsste auch vereinbart sein, dass die Arbeitgeberin während dieser Wartefrist 80% des Lohnes bezahlt (ansonsten wäre 100% geschuldet) sowie für die ersten zwei Tage eines Krankheitsfalles (Karenzfrist) keine Leistungen geschuldet sind. Bezahlt der/die Arbeitnehmerin die Hälfte der Prämien, sollte auch das geregelt sein.
Findet sich somit in dem schriftlichen, d.h. unterzeichneten (!) Arbeitsvertrag, in den Anstellungsbedingungen, die integrierender Bestandteil des schriftlichen Arbeitsvertrages sind, oder in einem GAV, der für das Anstellungsverhältnis zur Anwendung kommt, eine Bestimmung, die das alles regelt, dann ist davon auszugehen, dass die Arbeitgeberin berechtigt war, die entsprechenden Lohnabzüge während der Grippeerkrankung vorzunehmen.
Ist nichts Entsprechendes schriftlich vereinbart, gilt die gesetzliche Lohnfortzahlung gemäss Art. 324a OR und man kann mit Erfolg den vorgenommenen Abzug zurückverlangen. Die Krankentaggeldversicherung kommt dann allenfalls ergänzend zum Einsatz. Es lohnt sich, den Arbeitsvertrag genau durchzulesen, wenn man erkrankt ist. Es finden sich dort die unterschiedlichsten Bestimmungen zur Lohnfortzahlung, die meist über die gesetzliche Verpflichtung hinausgehen.